Was ist das mit mir? Brauche ich diesen Druck? Oder brauch ich ihn genau nicht? Macht er alles nur schlimmer? Bin ich nicht ehrlich mit mir selbst? Seit meiner Kindheit habe ich ein gestörtes Essverhalten. Ich werde emotional gesteuert beim Essen. Wirklich hungrig war ich nie. Zuhause gab es von allem reichlich. Meine Eltern gehören der Nachkriegsgeneration an, Gefühle leben, vor allem positive, ist ihnen nicht mitgegeben worden. Dafür war in den harten Jahren nach dem 2. Weltkrieg kein Platz. Beide kommen aus Pommern, ihre Eltern sind geflüchtet, haben Krieg, Zerstörung, Vergewaltigung und Hungersnot erlebt. Bis heute mag mein Vater (wird 80 in diesem Jahr) keine Steckrüben, weil es in den Jahren nach dem Krieg monatelang nichts Anderes zu essen gab als das. Das hat sie natürlich geprägt, so dass es für uns, ihre Kinder immer genug gab und zum anderen – wann auch immer es mir schlecht ging, mental oder physisch, zauberte meine Mutter mein Lieblingsessen auf den Tisch oder ans Krankenbett. Es war ihre Form, mir ihre Liebe zu zeigen. Auf diese Weise ist bei mir so in frühen Kindertagen Essen zum Trost geworden und ist es (leider) bis heute. Vor einigen Jahren, durch eine schwere Lebensphase hindurch, entwickelte sich dieses ohnehin emotionale Essverhalten leider in eine ausgewachsene Essstörung – Binge eating. Diese Essstörung kennzeichnet ausgiebige und unkontrollierte Essanfälle bis hin zu schwerer Übelkeit, Lethargie und sich anschließendem Schamgefühl und Selbstverurteilung. Gefühle, die häufig dazu führen, dass ein weiterer Essanfall ausgelöst wird. Ein Teufelskreis. Cindy aus Marzahn machte vor sehr vielen Jahren in einer ihrer Bühnenprogramme einen Joke über ihr eigenes Essverhalten, ich sah das in einer Fernsehsendung: „Ich hab Alzheimer Bulemie. Ich stopfe alles in mich hinein, aber vergesse zu kotzen.“ Das Publikum bog sich vor Lachen. Ich weinte. Zu diesem Zeitpunkt sprach noch niemand über Binge eating. „Zu“ dünn sein ist in unserer Gesellschaft angesehener als „zu“ dick sein. In meiner Wahrnehmung fühlen Menschen mit magersüchtigen/bulemischen Personen mehr mit und entwickeln Verständnis, wenn diese von Essanfällen erzählen, als wenn mehrgewichtige, an Binge eating erkrankte Menschen von diesen Anfällen berichten. Leider werde ich in Kommentarspalten auf sozialen Kanälen in dieser Wahrnehmung allzu oft bestätigt: fett, unreflektiert und undiszipliniert sind die Begriffe, die am häufigsten im Zusammenhang mit mehrgewichtigen Menschen benutzt werden. Menschen, die mich lange kennen, wissen, dass es mich nicht irgendwo in der Mitte gibt. Schon meine Mutter sagte früher immer zu mir: „Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt.“ Als Kind und Jugendliche wusste ich das nicht einzusortieren – verstand nicht, was sie damit meinte. Heute weiß ich es. Ich gebe Vollgas bis zur Erschöpfung, danach habe ich keine Energie mehr und falle in ein Loch. In so einem Loch sitze ich gerade. Nach meiner Alpenüberquerung im September habe ich mich sehr fürsorglich um mich gekümmert. Habe viele Herbstwanderungen gemacht, Saunabesuche, Yoga, mich wirklich hervorragend ernährt. Und dann streckte mich im späten Herbst erst eine Erkältung nieder, kurz danach eine Grippe und ein paar Tage vor Weihnachten meine zweite Covidinfektion. Ich fuhr in den Weihnachtsurlaub, gönnte mir Ruhe und startete mit vielen (großen) Vorhaben und positiven Gedanken in das neue Jahr. Stines Geburtstag, mein eigener, ein Kongress in Berlin – busy Januar. Dann auf die Philippinen. Viel Arbeit, richtig viel, Klimawechsel – Erkältung, Magen-Darm, Herpes. Deutliche Signale meines Körpers. Also hielt ich still in den sich anschließenden Tagen auf Palawan. Wirklich gut erholt kam ich zurück. Ups, schon März. Nur noch 4 Monate bis zu meiner Reise nach Grönland, mein bisher größtes und herausforderndstes Wanderprojekt (siehe Artikel zur Planung). Ok, ruhig atmen Antje. Sind ja noch 4 ganze Monate. Und auf einmal war der März um, die nächste Dienstreise stand vor der Tür und der Druck in mir wurde immer größer. Und anstatt mich auf mein Vorhaben positiv zu konzentrieren, passiert mir genau dasselbe wie in Vorbereitung auf die Alpenüberquerung. Ich halte dem Druck nicht stand und finde mich in einer der schlimmsten Phasen meiner Essstörung überhaupt wieder. Innerhalb von 2 Monaten nehme ich 10 kg zu. Wie soll ich so den Arctic Circle Trail laufen? Ok, Antje. Erstmal Indien und danach volle Konzentration auf die Vorbereitung. Atme. Du schaffst das. Indien überwältigt mich. Vielleicht auch weil ich was völlig anderes erwartet hab. Aber ich bin im Flow in den Tagen. Ich arbeite viel in meiner Zeit in Mumbai und Kerala. Mit Sicherheit zu viel. Ich ernähre mich fast vollständig vegetarisch, das tut mir richtig gut und so freue mich auf Zuhause und die anstehende Vorbereitungsphase für Grönland. Ich schaff das. 4 Stunden vor Rückflug. Innerhalb der letzten 2 Stunden geht es mir schlecht. Richtig schlecht. Das hatte ich schon mal. Im Januar vergangenen Jahres. Ich krame aus meinem bereits gepackten Koffer einen Test. Ich bin positiv. Meine 3. Covidinfektion. Mit sehr großem schlechten Gewissen fliege ich nach Hause. Der Flug ist eine Qual, hoch fiebernd, in wirklich schlechtem Zustand verbringe ich die Stunden im Dämmerzustand. Zuhause breche ich zusammen und bleibe für die nächsten 4 Tage im Bett. Ich schlafe den Schlaf meines Lebens und in der weinigen Zeit, in der ich wach bin, weine ich. Ich tu mir leid. Schrecklich leid.
Noch 8 Wochen. Wie soll ich das denn jetzt noch schaffen? Ich bin völlig außerhalb meiner Form. Jeglicher Form. 165 km durch die arktische Tundra, ohne festen Weg, allein, ohne Versorgungspunkte, draußen schlafen? Alles was ich benötige auf dem Weg, muss ich von Beginn an mitnehmen. Mitschleppen. Den Rucksack und mein zusätzliches Körpergewicht. Nur noch 8 Wochen. Und nun noch so krank. Mein Körper wird Ruhe brauchen um diese erneute Coviderkrankung wegzustecken. Mich jetzt weiter unter Druck zu setzen wird alles nur noch schlimmer machen. Atme! Du wirst das schaffen.
„Never quit on a bad day!“
Ich lese diesen Satz im besten Moment überhaupt. Sarah Muehl, Creative Director und Redakteurin meines Lieblings-Outdoormagazins „The Female Explorer“ ist nach 1000 km auf dem PCT (Pacific Crest Trail) Thru-Hikerin und schreibt in ihrem aktuellen Artikel im Magazin über ihre Zeit auf dem Weg: „…immer wieder hatte ich mit dem Gedanken gespielt dieses Abenteuer abzubrechen. Doch in meiner Verzweiflung fand ich auch Momente der Stärke…“ Ihre Worte spenden mir Trost und machen mir Mut.
Sie sagt noch was über ihren Weg, was mich ruhig werden lässt. Ich atme.
„Dieses Abenteuer ist so groß, dass niemand außer dir selbst es bewerten kann.“
So ist es doch immer im Leben. Ich ganz allein, weiß, wie ich mein Leben leben möchte, was ich mir zutraue, was ich schaffen kann. Ich muss das niemand anderem beweisen.
HIKE YOUR OWN HIKE. LIVE YOUR OWN LIFE.
Ich kann grad nicht rausgehen in die Wälder, auf meine Wege, mir meine eigene Stärke erlaufen. Aber ich kann fürsorglich mit mir sein. Und gütig.
Liebe Antje, dein Post lässt mich länger Nachdenken und ich höre in mich rein. Ich erkenne mich in deinem Text wieder. Gerade weiß ich nicht ob ich das gut oder schlecht für mich finden soll. Ich gebe auch Vollgas, um allen gerecht zu werden und nachher in ein Loch zu fallen. Function depression wurde mir mal diagnostiziert. Nach 2 Jahren Therapie kenne ich meine Anzeichen und kann gegensteuern. Habe ich auch eine Essstörung? 🤔 Auf jeden Fall kompensiere ich Gefühle mit Essen. Vieles kommt mir gerade bekannt vor. Ich habe nur noch 2 Wochen bis zu meiner Wanderung und auch ein paar Kilos Zuviel.
Aber (!!!!!!!) wir werden unseren Weg gehen. Das weiß ich. Du deinen Trail und ich…
Liebe Antje, ich kenne dich nicht persönlich. Aber deine Texte und deine Storys auf Insta, haben mir eine starke selbstbewusste aber auch selbstreflektierte Frau gezeigt. Ich bin völlig überzeugt davon, dass du das schaffen wirst, da ea ein Traum von dir ist und du das willst. Glaub an dich und glaub an deine innere Stärke. Leider können wir dich auf deinen Trail wahrscheinlich nicht zwischendurch motivieren, da du kein Netz hast, aber denk dran du hast einen Backround der dich unterstützt. Du musst niemanden was beweisen, du machst das alles nur für dich. Aber es gibt genügend Unterstützung. Du schaffst das.